Thorsten Faas als Sachverständiger am Bundesverfassungsgericht zur jüngsten Wahlrechtsreform
News vom 25.04.2024
Die Wahlrechtsreform und ihre Folgen
Die Ampelkoalition hat vor gut einem Jahr eine neuerliche Wahlrechtsreform verabschiedet; Ziel ist vor allem die Reduzierung der Abgeordnetenzahl – aktuell hat der Bundestag, der „eigentlich“ 598 Abgeordnete haben sollte, über 730 Abgeordnete und Simulationen zeigen immer wieder: Es könnten nach dem alten Recht sogar noch mehr werden.
Zentraler Aspekt der Reform ist die Abschaffung von Überhang- und Ausgleichsmandaten – mit der Folge, dass nicht alle Kandidierenden, die in einem Wahlkreis die meisten Erststimmen erzielen, garantiert einen Sitz im Bundestag haben werden. Es braucht dafür eine entsprechende „Zweitstimmendeckung“ der Parteien. Im Zuge dieser Relativierung von Wahlkreisen und ihrer Bedeutung sieht die Reform auch die Abschaffung der Grundmandatsklausel vor – zukünftig müssen alle Parteien mindestens 5% der bundesweit gültigen Zweistimmen erhalten, um im Bundestag vertreten zu sein. Die bisherige Regel, wo nach alternativ auch drei Direktmandate in Wahlkreisen anstelle der 5% Zweitstimmen („die Grundmandatsklausel als Gegenausnahme“) diese Funktion erfüllen, wurde abgeschafft. Über diese Grundmandatsklausel aber ist die Linke 2021 in den Bundestag eingezogen und auch für die CSU stellte die Regel einen doppelten Boden dar: Sie übersprang 2021 bundesweit nur knapp die 5% (mit 5,2%), gewann aber fast alle bayrischen Wahlkreise direkt.
Die bayerische Staatsregierung, die Unions- und die Linksfraktion haben daher vor dem BVerfG Klage eingereicht. Außerdem klagte auch der Verein „Mehr Demokratie“ gegen die Höhe der Sperrklausel von 5% insgesamt. Am 23. und 24. April fand nun die Anhörung vor dem Bundesverfassungsgericht statt. Prof. Dr. Thorsten Faas war dazu als Sachverständiger geladen und präsentierte fachliche Hintergründe (und bunte Grafiken) zur geplanten Reform.
Wie sind die Beschwerden der Unions- und Linksfraktion einzuordnen?
In seinen Ausführungen verwies Thorsten Faas zunächst auf einen, schon lange schwelenden Zielkonflikt zwischen Sollgröße des Bundestags, Proportionalität zwischen Zweitstimmen und Sitzen sowie Garantie der Wahlkreiszuteilung: Man könne schlicht nicht alles haben. Dieser wurde in der Vergangenheit überwiegend zu Gunsten der garantierten Wahlkreiszuteilung gelöst, was zu Abstrichen in der Proportionalität und/oder einem Anwachsen des Bundestags führte. Indem in der Wahlrechtsreform die Sollgröße von 630 Abgeordneten und die Proportionalität garantieren soll, kann – der Natur eines Zielkonflikts entsprechend – die Wahlkreiszuteilung nicht für jeden einzelnen Wahlkreis garantiert werden. Dies stelle eine Schwächung der Wahlkreise und der dort zu vergebenden Direktmandate dar, was durch die Abschaffung der Grundmandatsklausel zusätzlich verstärkt wird.
Wie steht es um die Bedeutung der Erststimme bei Bundestagswahlen?
Die Empirie liefert Hinweise dafür, dass die Priorisierung der Sollgröße des Bundestags gerechtfertigt ist: Auch wenn die personalisierte Verhältniswahl insgesamt ein hohes Ansehen genieße, verliere die Erststimme doch zunehmend an Bedeutung. Dies verdeutlichen insbesondere die Abbildungen, die dem untenstehenden Dokument zu entnehmen sind. Die ersten Abbildungen zeigen, dass die Erststimmenanteile der angeführten Parteien stark mit den Zweitstimmenanteilen korreliert sind – die Muster sind extrem regelmäßig, was auf geringe, individuelle Personeneffekte in Wahlkreisen hindeutet. Anders formuliert: Auch die Vergabe der Erststimme folgt einer Parteien-, weniger einer Personenlogik. Zudem werden die Wahlkreise mit immer geringeren Stimmenanteile gewonnen (auch das spiegelt bundespolitische Entwicklungen des Parteiensystems wider): Die Abbildung zur Verteilung des Erststimmenanteils zeigt genau das: Der prozentuale Erststimmenanteil der/des Erstplatzierten, der lange Zeit im Mittel bei rund 50% lag, ist deutlich gesunken. Bei der Bundestagswahl 2021 gewannen die Erstplatzierten ihre Wahlkreise im Schnitt lediglich mit knapp über 30% der Erststimmenanteile; der geringste Anteil lang sogar unter 20 Prozent. Nur ein einziger Wahlkreise wurde mit absoluter Mehrheit gewonnen. Das Argument, dass Wahlkreisgewinner*innen eine große, eigenständige Legitimation genießen und die Erststimme daher ein hohes Gut sei, stellt dies in Frage. Ähnliche Schlüsse können auch mit Blick auf die Daten aus der deutschen Wahlstudie GLES gezogen werden. So konnten im Zuge der Bundestagswahl 2021 knapp 55% der Wähler*innen keine einzige Kandidatin beziehungsweise keinen Kandidaten aus ihrem Wahlkreis mit der dazugehörigen Partei nennen.