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Gläserne Zäune

Wissenschaftler:innen sind viel mehr als nur wandelnde Gehirne. Sie sind so vielfältig wie die Gesellschaft selbst. Die Soziologin Kathrin Zippel untersucht, wie in der Wissenschaft mit Gender umgegangen wird und wie Frauen in globalen Wissenschaftsnetzwerken ausgegrenzt werden.

News vom 10.10.2023

Das Konzept der gläsernen Decke ist vielen Menschen bekannt. Damit ist die Vorstellung gemeint, dass es eine unsichtbare strukturelle Barriere gibt, die Frauen nicht überwinden können, wenn sie versuchen, auf ihrem Karriereweg voranzukommen. Ich habe den Begriff der gläsernen Zäune geprägt, um die mangelnde Durchlässigkeit für Forscherinnen zu beschreiben, die in der globalen Wissenschaft nationale Grenzen überschreiten. Forschungslaufbahnen erfordern zunehmend internationale Zusammenarbeit und Mobilität. Doch tatsächlich erschweren gläserne Zäune Frauen den Weg ins Ausland.

Diese unsichtbaren Barrieren bestehen in mehreren Dimensionen. Um nur ein Beispiel zu nennen: Frauen nehmen seltener an internationalen Konferenzen teil, weil diese nicht nach familienfreundlichen Kriterien organisiert sind und oft Hürden für Menschen mit Betreuungsverpflichtungen bieten. Das bedeutet, dass sie weniger Gelegenheit haben, internationale Forscher:innen zu treffen. 

Das Geschlecht ist überall präsent - in den alltäglichen Interaktionen, in der Arbeitswelt, im Privatleben, in akademischen Einrichtungen, in der Art des von uns produzierten Wissens, in den Entscheidungen, die wir treffen, und in der Art und Weise, wie Macht ausgeübt wird. Wie können wir sicherstellen, dass wir nicht andere alte Privilegien verstärken, wenn wir in der Wissenschaft gegenderte Barrieren und Grenzen zwischen Ländern abbauen? Wir neigen dazu, das "Normale" als Standard für unsere Entscheidungen zu nehmen, aber das Konzept der Normalität ist in der Regel geprägt durch die Wahrnehmung und Interessen von Menschen, die heterosexuell, weiß, gebildet, männlich, aus der Mittelschicht und aus dem globalen Norden sind. Ein Schwarzer schwuler Wissenschaftler braucht eine andere Art von Unterstützung, wenn er ins Ausland geht, als ein heterosexueller Wissenschaftler mit seiner Frau und seinen Kindern, die alle weiß und gesund sind.

Die Art und Weise, wie Organisationen und Institutionen die Normperson konzeptualisieren, passt auf viele in der Wissenschaft nicht. Wir müssen die Regeln ändern, damit sie besser zur Vielfalt passen. Sie müssen flexibler und integrativer werden, denn Wissenschaftler:innen sind viel mehr als nur wandelnde Gehirne. Wir sind menschliche Wesen, deren Identität mehrere Aspekte hat.

Als Organisations- und Institutionssoziologin betrachte ich das Geschlecht weniger als individuelles Attribut, also ob sich jemand beispielsweise als Mann, Frau oder nicht-binär identifiziert. Mich interessiert vielmehr, wie in Institutionen mit dem Geschlecht umgegangen wird. Wie organisieren, bewerten, belohnen und verteilen wir Ressourcen für internationale Kooperationen im Hinblick auf das Geschlecht? Ich untersuche dies in Institutionen wie dem CERN in Genf und in internationalen Förderorganisationen wie der Alexander von Humboldt-Stiftung, die Stipendien für Auslandsaufenthalte von Forscher:innen vergibt.

Ich habe einen mathematischen Hintergrund, und ich glaube, dass die Kombination von qualitativen Methoden, wie Interviews, mit quantitativen Methoden und Visualisierungen sehr wirkungsvoll ist. Eine meiner Lieblingsmethoden ist die Netzwerkanalyse, mit der wir untersuchen können, wie Menschen, Organisationen und Wörter miteinander verbunden sind. Diese Visualisierung von Bindungen und Verbindungen gibt uns Einblicke in Machtstrukturen.

»Wir müssen die Regeln ändern, damit sie besser zur Vielfalt passen. Sie müssen flexibler und integrativer werden, denn Wissenschaftler:innen sind viel mehr als nur wandelnde Gehirne. Wir sind menschliche Wesen, deren Identität mehrere Aspekte hat«

Ich bin besorgt über die Angriffe aus rechtspopulistischen Kreisen auf die Geschlechterforschung und auf  Programme zur Gleichstellung der Geschlechter in der Wissenschaft. In meinen Augen verfolgen rechtspopulistische Akteure ein wissenschaftsfeindliches Projekt, und sie konzentrieren sich auf die Geschlechterforschung, weil sie glaubem, dass sie das schwächste Glied ist, um die Wissenschaft als Ganzes zu delegitimieren. Ich möchte diese Angriffe auf die Legitimität der Geschlechterforschung untersuchen, während ich mir gleichzeitig anschaue, wie Menschen in Deutschland die Geschlechterforschung unterstützt und vorangebracht haben und wie die Geschlechterfrage in das Projekt einer demokratischen Gesellschaft eingebunden ist. Denn Gleichheit ist im Grundgesetz festgelegt.

Ich glaube, dass die Wissenschaft Menschen helfen und sie befähigen kann, und ich möchte wissenschaftliche Erkenntnisse nutzen, um Veränderungen zu bewirken. Ich versuche, Wissen zu schaffen, das für Institutionen, Politiker:innen, Entscheidungsträger:innen und die breite Öffentlichkeit nützlich sein kann, um eine integrativere und gerechtere Welt zu schaffen. Die Forschung kann uns helfen, kritisch darüber nachzudenken, wie wir Institutionen verändern und die Geschlechtergerechtigkeit verbessern können. Es wäre seltsam zu erwarten, dass der Wandel ohne Widerstand oder Spannungen vonstatten geht, weil geschlechtsspezifische Ungleichheiten so sehr in Machtstrukturen eingebettet und verwebt sind. Es ist also notwendig, diese Widerstände anzusprechen und zu überwinden.

Aufgezeichnet von Mirco Lomoth
Illustration: Andreas Töpfer


Das Interview mit der Einstein Stiftung Berlin finden Sie auch unter: https://www.einsteinfoundation.de/elephants-butterflies/glaeserne-zaeune/

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Soziologie - Euiropäische Gesellschaften