Europäische versus nationale Gleichheit
Jürgen Gerhards
Berliner Studien zur Soziologie Europas Nr. 2 | Oktober 2005 | Download als PDF
Abstract
Der europäische Integrationsprozess lässt sich als ein Prozess der Verlagerung von Souveränitätsrechten von den Nationalstaaten auf die Institutionen der Europäischen Union interpretieren. Die heutige Europäische Union startete mit der Festlegung einer gemeinsamen Verwaltung für die Kohle- und Stahlindustrie. Schritt für Schritt wurden andere Bereiche in den Prozess der Vertiefung einbezogen: Eine Zollunion wurde gegründet, ein gemeinsamer Binnenmarkt und eine Wirtschafts- und Währungsunion wurden gebildet, und schließlich wurde für eine Teilgruppe der EU-Länder eine gemeinsame Währung eingeführt.
Der Prozess der zunehmenden europäischen Integration lässt sich aber nicht nur als ein Prozess der Zunahme europäischer Regelungen und der Ausbildung eines eigenständigen europäischen Institutionensystems beschreiben, sondern auch als ein Prozess der Etablierung einer europäischen Werteordnung. Die Union ist auch ein politischer Werteunternehmer, der mit seinen Politiken in die Werteordnungen seiner Mitgliedsländer eingreift. Sie verfügt über ein Skript einer europäischen Gesellschaft und versucht, mit ihren Politiken ihre Vorstellungen einer europäischen Gesellschaft zu realisieren. Dabei hat die EU zum Teil sehr dezidierte Vorstellungen darüber, wie eine Familie, die Ökonomie, der Wohlfahrtsstaat oder eine Zivilgesellschaft idealiter aussehen soll. Wir haben an anderer Stelle mithilfe einer Analyse des Primär- und Sekundärrechts der EU zu zeigen versucht, welche Werteordnung – differenziert nach Wertsphären – die EU präferiert (vgl. Gerhards/Hölscher 2005). Wir knüpfen in der folgenden Untersuchung an diese Analysen an, konzentrieren uns hier auf das Gleichheitsskript der Europäischen Union und gehen dabei folgenden drei – miteinander verknüpften – Fragen nach.
1. In einem ersten Schritt beschreiben wir mit Rekurs auf das EU-Recht und die EU- Politiken, wie die Europäischen Union die Idee einer allein binnennationalen Gleichheit transnationalisiert und ersetzt hat durch die Idee einer Gleichheit aller Bürger Europas. Ein Blick in die Vertragsentwicklungen wird zeigen, dass die Union Schritt für Schritt das Prinzip der Gleichheit aller Unionsbürger auf unterschiedliche Politikfelder ausgedehnt und damit die Legitimität nationalstaatlicher Schließung und von nationalen Sonderregelungen durchbrochen hat. Dies gilt vor allem für den Bereich der Wirtschaft und die Herstellung eines gemeinsamen europäischen Binnenmarktes.
2. Manche Autoren gehen davon aus, dass sich mit einer Europäisierung der Politikfelder und einer Strukturierung eines europäischen gesellschaftlichen Raumes auch die Wahrnehmungen der Bürger verändern, so dass man von einer Europäisierung von Einstellungen und Werteorientierungen sprechen kann. Ulrich Beck und Edgar Grande haben jüngst die These formuliert: »Im Anschluss daran soll hier die These entwickelt werden, dass sich die bisherigen Verzerrungen in der Wahrnehmung sozialer Ungleichheiten – das heißt die Herstellung und Aufrechterhaltung der Unvergleichbarkeit von gleichen Ungleichheiten zwischen und über nationale Grenzen hinweg – im Zuge der grenzverändernden Grenzenpolitik der Europäisierung auflösen.« (Beck/Grande 2004: 266) Ob dies wirklich der Fall ist, wollen wir für den Bereich der Gleichheit auf dem Arbeitsmarkt prüfen. In welchem Maße unterstützen die Bürger die Vorstellung, dass ausländische Bürger auf dem Arbeitsmarkt die gleichen Zugangsmöglichkeiten und Rechte genießen wie die eigenen Bürger, oder umgekehrt formuliert: In welchem Maße gehen die Bürger davon aus, dass Inländer gegenüber europäischen Ausländern einen bevorzugten Zugang zu Arbeitsplätzen haben sollen? Unterstützen die EU-Bürger das Skript der EU-Institutionen von einer Gleichheit der Arbeitskräfte oder favorisieren sie ein Ungleichheitskonzept, das zwischen Inländern und Ausländern unterscheidet? Wird die institutionelle Europäisierung also durch eine mentalitätsmäßige Europäisierung (Heidenreich in diesem Band) unterstützt?
Die Frage nach einer Unterstützung des EU-Skripts durch die Bürger ist für die Legitimität der Politiken der EU nicht unerheblich, wie die Ablehnung der europäischen Verfassung in den Mitgliedsländern Frankreich und den Niederlanden gerade gezeigt haben. Demokratien sind strukturell auf die Unterstützung ihrer Bürger angewiesen. Bleibt diese aus, kann es zu Legitimitätsproblemen der Institutionen selbst kommen.
3. Die deskriptiven Befunde werden zeigen, dass das Gleichheitsskript der EU bei den Bürgern Europas keine mehrheitliche Unterstützung findet, wobei es erhebliche Unterschiede zwischen den Ländern gibt. Neben einer Deskription gehen wir in einem dritten Schritt der Frage nach, wie man die gefundenen Unterschiede zwischen den Ländern erklären kann. Dazu formulieren wir zuerst Hypothesen, die wir mit Hilfe einer multivariaten Analyse überprüfen werden. In einem abschließenden Kapitel gehen wir auf mögliche politische Implikationen der Befunde ein. Die empirische Grundlage unserer Rekonstruktion der Werteorientierung der Bürger bilden Sekundäranalysen von repräsentativen Bevölkerungsbefragungen, die in den Mitglieds- und Beitrittsländern durchgeführt und in denen die Bürger nach Werteeinstellungen gefragt wurden.