Nachruf auf Prof. Dr. Brigitte Rauschenbach
Am 14. Dezember 2018 starb – nach kurzer schwerer Krankheit – unsere Kollegin, die politische Philosophin und Feministin, Prof. Dr. Brigitte Rauschenbach. Sie zeichnete sich aus als Grenzgängerin zwischen den Disziplinen Philosophie, Psychologie und Politikwissenschaft. An der Freien Universität Berlin tätig war sie bereits von Mai 1974 bis September 1975 als Assistenzprofessorin am Fachbereich Politikwissenschaft, sodann von September 1985 bis August 1991 am Institut für Psychologie als Hochschulassistentinsowie schließlichvon Januar 2000 bis September 2007 am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft als sog. Teilzeitprofessorin für Genderstudien.
Das Otto-Suhr-Institut trauert um Brigitte Rauschenbach. In Lehre und Forschung hat sie in vielem neue Wege beschritten. Mit ihrer Schaffenskraft und ihrem kritischen Widerstandsgeist wird sie uns auch künftig ein Vorbild sein.
Vier Phasen des Schaffens
Bereits mit 29 Jahren legte Brigitte Rauschenbach unter dem Titel „Antizipation und Prognose" (1972) ihre Dissertation im Fach Philosophie vor. In dieser ersten Phase interessierte sie sich vor allem für Fragen der Erkenntnis-, Wissenschafts- und Subjekttheorie. Entsprechend erschien eine erste Monographie zum Verhältnis von „Erkenntnis und Erfahrung" (1983). Später erfolgte unter dem Titel „Nicht ohne mich" (1991) die Publikation der Habilitation zur Rolle des Subjekts im Erkenntnisprozess. Als ausgebildete Romanistin das Französische stets im Original lesend war Brigitte Rauschenbach von Anfang an über die in Paris sich sammelnden Post-modernen informiert, insbesondere über die Subjekttheorie von Jean-François Lyotard. Hegel- und kantgeschult, wie sie war, sah Brigitte Rauschenbach postmoderne Theorie durchaus kri-tisch. Diese Kritik entwickelte sie unter anderem in ihrer stets glasklar und fair argumentierenden Habilitation.
In einer zweiten Phase setzte Brigitte Rauschenbach ihre psychoanalytischen Kenntnisse ein, um die verdeckten Hintergründe „Deutscher Wenden" aufzuklären: Was ist den Umbrüchen von 1968 und 1989 gemeinsam? Als Initiatorin einer international rezipierten Konferenz gelang es ihr im Februar 1992, renommierte WissenschaftlerInnenund Schriftstellerinnen aus Ost und West an die Freien Universität Berlin einzuladen, um über das bislang Unaussprechliche, das Unbewusste der historischen Wende von 1989 zu debattieren: „Erinnern, wiederholen, durch-arbeiten" (1992) – diesen Appell Freuds aufgreifend können wir die Ergebnisse heute in einem gleichnamigen Konferenzband nachlesen. Kurz darauf legte Brigitte Rauschenbach eine Monographie zum Thema „Deutsche Zusammenhänge" (1995) vor. Unter dem Titel „Politik der Erinnerung" (1998) verfasste sie schließlich einen programmatischen Aufsatz, der an renommierter Stelle (Suhrkamp) erschien. Ende der 1990er Jahre gehörte Brigitte Rauschenbach damit unbestritten zu jenen, die das Thema „Erinnerungspolitik" in der bundesdeutschen Wis-senschaftslandschaft neu begründeten und erfolgreich besetzten.
In ihrer dritten Schaffensphase wendete sich Brigitte Rauschenbach den antiken und modernen Klassikern des politischen Denkens zu. Haben sich etwa in den gewohnten Kanon teils bewusst, teils unbewusst stereotype Bilder über Mann und Frau eingeschrieben? Da gab es offenbar einiges gründlich gegenzulesen: Aischylos, Euripides, Aristophanes, Sokrates, Platon, Aristoteles, Abaelard, Augustinus, Machiavelli, Luther, Bacon, Hobbes, Locke, Montesquieu, Rousseau, Kant, Schelling, Clausewitz, Hegel, Marx, Nietzsche, Freud, Rawls und Walzer. Angesichts dieser Theorietraditionen suchteBrigitte Rauschenbach gezielt nach weiblichen Stimmen. So entdeckte sie zunächst Christine de Pizan aus dem frühen 15. Jahrhundert, dann die bislang weithin unbekannte Frühfeministin Marie de Gournay, schließlich Luce Irigaray als Vertreterin der Postmoderne. Publiziert bei Campus legte Brigitte Rauschenbach am Ende eine der ersten Einführungen in die „Politische Philosophie der Geschlechterord-nung" (1998) vor – ein Buch, das heute in keiner Litertaturliste des Teilgebiets der politischen Theorie fehlen sollte. Kurz darauf erschien unter dem Titel „Der Traum und sein Schatten" (2000) das Porträt von Marie de Gournay als einer Zeitgenossin Montaignes.
In der vierten Phase vertiefte Brigitte Rauschenbach noch einmal ihre theorie- und ideenge-schichtlichen Erkundungen. Nun gab Montesquieus „Geist der Gesetze" den Anlass, in einer – ihrer letzten – Monographie kritisch nach dem „Geist der Geschlechter" (2017) zu fragen. Und wieder fällt ins Auge, was die Arbeiten Brigitte Rauschenbachs durchgängig auszeich-nete: Die präzise Neulektüre bekannter Texte, gleichzeitig die Offenheit gegenüber ihr eigentlich fremden philosophischen Strömungen, wie der des Poststrukturalismus (Lyotard, Levinas, Derrida) oder der postmodernen feministischen Theorie (Irigaray, Butler).
Frühe Dissertation, erfolgreiche Habilitation, sieben Monographien, zwei Herausgaben, 72 Aufsätze und Artikel in renommierten Zeitschriften und Sammelbänden, Publikationen bei Campus und Suhrkamp, anerkannte Buchstipendien, diverse Mitarbeiter-, Assistenten- und Professorenstellen nicht nur an der Freien Universität Berlin – alle Standards einer aussichts-reichen Hochschulkarriere sind erfüllt. Mehr als erfüllt. Woher dann die vielen Brüche in der Laufbahn, die vielen Kämpfe, die Enttäuschungen?
Erinnern wir uns an einige biografische Daten. Wenn wir diese etwas ausführlicher als üblich schildern, könnte sichtbar werden: Der Werdegang von Brigitte Rauschenbach steht geradezu exemplarisch für jene Hindernisse, die das damalige Wissenschaftssystem Frauen ihrer Genreration in den Weg legte.
Die Ambivalenz der Transdisziplinarität
Schon durch die Studienfachwahl signalisierte Brigitte Rauschenbach ihr Interesse an Trans-disziplinarität. Nach dem Tübinger Studium der Fächer Geschichte, Germanistik und Roma-nistik kam sie 1963 an die Freie Universität Berlin, um hier 1965 in das Studium der Philosophie zu wechseln und 1972 im Fach Philosophie zu promovieren. 1990 erfolgte die fächer-übergreifende Habilitation in Praktischer Philosophie und Politischer Psychologie. Das, was heute als Stärke gesehen wird, führte im Falle von Brigitte Rauschenbach dazu, dass sie sich im Wissenschaftsalltag nicht selten in einer Position zwischen allen (Lehr-) Stühlen wiederfand.
Wissenschaft und Mutterschaft
In den Jahren 1977 und 1979 kamen die beiden Söhne Brigitte Rauschenbachs zur Welt. Und wie reagierte das Wissenschaftssystem? Da es noch keine Erziehungszeit gab, zwang man die Wissenschaftlerin nach der Geburt in einen unbezahlten „Sonderurlaub". Selbst zum Poli-tikum konnte die Mutterschaft werden: Obwohl in einem regulären Auswahlverfahren als Erstplatzierte ausgezeichnet, verweigerte die damalige Wissenschaftssenatsverwaltung unter Se-nator Kewenig im März 1984 den Antritt einer Assistentenstelle mit der Begründung: Mit der
Geburt der beiden Kinder sei die Qualifizierungsphase unterbrochen und die Aussicht auf eine erfolgreiche Habilitation nicht mehr gegeben. Erst öffentliches Aufsehen und heftiger Protest mussten dafür sorgen, dass Brigitte Rauschenbach die sechsjährige Assistentenstelle am Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin im September 1985 zwar verspätet, aber immerhin antreten konnte.
Unsichere Arbeitsbedingungen
Hinzu kam die Unsicherheit befristeter Arbeitsverträge. Zwischen 1972 und 1976 startete Bri-gitte Rauschenbach am damaligen Fachbereich Politikwissenschaft mit unbesoldeten, dann besoldeten Lehraufträgen, die selten über ein Semester hinausgingen. Von 1977 bis 1982 folgte eine auf fünf Jahre befristete Teilzeitstelle als Wissenschaftliche Mitarbeiterin. Die auf sechs Jahre befristete Beamtenstelle (1985-1991, C1) am Institut für Psychologie schloss nicht sofort an, sondern musste erst erkämpft werden. Im April 1992 wechselte Brigitte Rauschen-bach als Mitarbeiterin an die Universität Halle, um Lehrkräfte für das neue Schulfach Ethik auszubilden. Als freie Mitarbeiterin auf Honorarbasis arbeitete sie dann am Berliner Landesin-stitut für Schule und Medien (LISUM), schließlich am hiesigen Landesinstitut für Politische Bildung. Die Zeit zwischen 1995 und 1999 wurde mit Buchstipendien überbrückt. Endlich erfolgte im Jahr 2000 die Berufung ans Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaftmit dem Schwerpunkt Geschlechterforschung. Möglich wurde dies durch die Initiative mehrerer etablierter Professo-ren, die Anteile ihrer eigenen Stelle zur Verfügung stellten, um innovative Professuren zu schaffen. Da es sich um eine befristete Teilzeitprofessur handelte, war Brigitte Rauschenbach allerdings gezwungen, ihre Professur im Jahr 2007 wieder zu verlassen.
Und wie ging Brigitte Rauschenbach mit diesen Bedingungen um? Sie lehrte, schrieb und publizierte. Sich selbst als Grenzgängerin zwischen den Disziplinen und Hochschulen verste-hend, ließ sie sich von solchen Unzumutbarkeiten jedenfalls nicht unterkriegen. Nicht nur zu hochschulpolitischen, sondern auch zu sozial- und gesellschaftspolitischen Fragen beteiligte sie sich an öffentlichen Debatten und engagierte sich auf vielfältige Weise.
So nutzte Brigitte Rauschenbach etwa die Zeit der Teilzeitprofessur am Otto-Suhr-Institut, um gemeinsam mit anderen Wissenschaftlerinnen das Online-Portal www.gender-politik-online.de (bzw. www.fu-berlin.de/sites/gpo/index.html) zu gründen. Seitdem erscheinen hier überblicks-artig Beiträge zur Bedeutung der Kategorie Geschlecht vor allem in der Politikwissenschaft, ergänzt um Beiträge aus den Nachbarfächern Soziologie, Kulturanthropologie und Publizistik. Eine Reihe der von Brigitte Rauschenbach selbst verfassten Artikel ist heute noch online zu-gänglich.
In der Lehre am Otto-Suhr-Institut befasste sich Brigitte Rauschenbach vorrangig mit den Ge-schlechterverhältnissen in der Politik, bezog dabei aber stets auch die fachübergreifenden Perspektiven der Psychologie und Philosophie ein. Ihre Lehrveranstaltungen waren gut be-sucht, aus ihren Projektkursen gingen zahlreiche Abschlussarbeiten hervor, eine Vielzahl von Prüfungen schloss sich an. Nicht zuletzt hat Brigitte Rauschenbach eine Reihe innovativer Dissertationen angeregt und betreut und so die jüngere Generation nicht abgewehrt, sondern gefördert. Heute bekleiden einige ihrer Doktorandinnen Professuren im In- und Ausland.
Um in ihrem Sinne gegen das Vergessen anzuschreiben und zum Lesen zu ermuntern, schließen wir mit einem bibliographischen Hinweis: Brigitte Rauschenbach, Politik der Erinnerung, in: Die dunkle Spur der Vergangenheit, hg. von Jörn Rüsen u. Jürgen Straub, Suhrkamp Ver-lag, Frankfurt am Main 1998, S. 354-374.
Sabine Berghahn, Cilja Harders, Brigitte Kerchner