Das Otto-Suhr-Institut trauert um Prof. Dr. Wolf-Dieter Narr
Das Otto-Suhr-Institut trauert um Professor Dr. Wolf-Dieter Narr. Er war von 1971 bis 2002 an unserem Institut als Professor für empirische Theorie der Politik tätig. Narr gehörte zu den besten Kennern des Werkes Max Webers. Neben wegweisenden Beiträgen zur Theoriebildung in der Politikwissenschaft und zu Fragen der Staats- und Demokratietheorie hat sich Narr besonders um eine Gesellschaftstheorie der Menschenrechte verdient gemacht. Dabei suchte er immer auch den Brückenschlag zur Praxis, etwa als langjähriger Sprecher des Komitees für Grundrechte und Demokratie. Narr setzte sich für Strafgefangene ein, kritisierte die Zustände in psychiatrischen Anstalten und praktizierte zivilen Ungehorsam. Solidarität bewies er auch mit seiner Entscheidung, zeitweilig auf ein Drittel seiner Stelle zu verzichten, um die Einrichtung einer Professur für Frauenforschung zu ermöglichen. Wir trauern um einen bedeutenden Gelehrten, einen öffentlichen Intellektuellen und einen liebenswerten Menschen.
Für das Otto-Suhr Institut: Bernd Ladwig (Geschäftsführender Direktor)
Wolf-Dieter Narr in Erinnerung
Von Hajo Funke
Gefragt von Bernd Ladwig, etwas zu seiner Erinnerung zu verfassen, spürte ich, wie schwer das ist, jetzt so kurz nach seinem Tod, nach dem er sich schon so lange soweit durch seine schwere Krankheit von uns hat entfernen müssen. Das lange Leiden – zunächst das Schwinden der Bewegungsfähigkeit durch eine Nervenkrankheit, dann der Sprachfähigkeit auch infolge eines Schlaganfalls, dann sein Verstummen und später das Nicht-wissen, ob er jemanden noch erreicht und ob wir ihn erreichen können, ist so wuchtig und so präsent – und steht so sehr im Kontrast zu dem, wie ihn so viele Studierende und Kollegen erlebt haben.
Als er 1971 Professor am Otto-Suhr-Institut wurde, hatte ich gerade mit Ach und Krach mein Diplom gemacht und war Teilzeitassistent und kam so in die Sozialistische Assistentenzelle. Wolf-Dieter Narr war über Jahrzehnte mein Lehrer und Vorbild, ohne ihn erreichen zu können. Er betreute meine Dissertation souverän, entschieden und freundschaftlich und ebenso meine Habilitation und meinen Vortrag zur Analyse des Antisemitismus Anfang der achtziger Jahre. Er war lange mein Begleiter, bis ich endlich auf eigenen Füßen stand. Ich vermisse seinen sprühenden spirit, seinen Geist, seine Entschiedenheit, seine politische Präsenz – und seine präzis formulierte Empörung über die gesellschaftlichen Entwicklungen. Er war fair, ja liebevoll und hilfreich. Er hat mit seiner Begeisterungsfähigkeit für neue theoretische und praktische Ideen und als Universalgelehrter der politischen Philosophie, der Ideengeschichte sowie der konkreten Herrschaftskritik der Bundesrepublik Generationen von Studierenden angeleitet und inspiriert (wie mich).
Und er war fast überall präsent, mit seiner jahrzehntelangen wunderbaren Mitarbeiterin Heide von Almsick aus seinem „Institütchen“ heraus, einem einzigen nicht sehr großen Raum in der Potsdamer Straße, 15 Minuten vom Otto-Suhr-Institut entfernt- Es bestand scheinbar nur aus Papieren, Texten, Seminararbeiten und immer wieder Max-Weber-Büchern, und durch diese Meere an Papieren sprang er hindurch, und wenn man ihn um Rat fragte, fand man irgendwo dazwischen auch Platz. Später traf er sich mit einem vornehmlich in den Cafés, in denen es guten und viel Kuchen gab. Er hatte in diesen Gesprächen mit Ratsuchenden immer Zeit. Ich kenne kaum einen Professor, der sich, auf der Grundlage genauer Lektüre selbst langer Texte, so viel Zeit nahm.
Sehr schnell und außerordentlich pragmatisch kämpfte er Anfang der siebziger Jahre zusammen mit der Sozialistischen Assistentenzelle für den Erhalt des Otto-Suhr-Instituts, als ein Teil der Professoren das Institut sprengen wollte. Mit seinen Kollegen Peter Grottian, Elmar Altvater, Bodo Zeuner oder Ulli Albrecht und später Brigitte Rauschenbach und Klaus Roth betrieb er kreativ und einflussreich eine emanzipatorische kritische Politik- und Sozialwissenschaft.
Entschieden kritisierte er sich ausweitende Trends der Anpassung und Selbstunterordnung des Wissenschaftsbetriebs an Zeitgeist und Neoliberalismus. Seine berühmten Verrisse der Universität in ihrem Alltag entsprangen seinem emphatischen Verständnis wissenschaftlicher und politischer Neugier auf Augenhöhe, einer demokratischen Universität. Im Zweifel stand er an der Seite der Studierenden.
Mit dem großartigen FU-Theologen und Widerständler Helmut Gollwitzer verband ihn eine innige politische Freundschaft. Er wird auf demselben Friedhof an der Annenkirche in Dahlem beerdigt sein.
Großer Wissenschaftler und unermüdlicher Aktivist
Wolf-Dieter Narr war ein Universalgelehrter. Jahrgang 1937 hatte er von 1957 bis 1962 in Würzburg, Tübingen und Erlangen studiert, in Konstanz promoviert und habilitiert, war Fellow an der John F. Kennedy School of Government der Harvard University und lehrte von 1971 bis 2002 als Professor für empirische Theorie der Politik am Otto-Suhr-Institut (OSI) der Freien Universität Berlin. In seinen Publikationen analysierte er den CDU-Staat unter Adenauer in den fünfziger Jahren, aber mehr noch die Lage der Menschenrechte, der Globalisierung und die Schwächen der Demokratie, war Verfasser politisch-theoretischer Schriften nicht zuletzt zu den Bedingungen gesellschaftlicher Demokratisierung und zur Lage der Politikwissenschaft, der er vorwarf, nicht systematisch die Bedingungen politischer Herrschaft zu kritisieren, sondern sich vielfach den politischen Rahmenbedingungen allzu leicht unterzuordnen.
Und mit gleicher Intensität setzte er seine Erkenntnisse in zivilgesellschaftliche Aktivitäten um, vor allem als einer der Motoren des in den siebziger Jahren vielleicht wichtigsten demokratisch-sozialistischen Organisations-Angebotes: dem Sozialistischen Büro, zusammen mit Klaus und Hanne Vack, Arno Klönne, Oskar Negt und Roland Roth - und im Kampf gegen die Atomrüstung. Er gründete das Komitee für Grundrechte und Demokratie, das er 40 Jahre lang wesentlich inspirierte, und war im Beirat von Attac.
Er war präsent in den politischen Debatten zu den gesellschaftlichen Verhältnissen, die er mit seiner an Weber geschulten Herrschaftskritik konfrontierte. Er kämpfte gegen Notstandsgesetze und und Atomenergie in Wackersdorf und kreierte eine Demonstrationsbeobachtung, die Wirkung hatte; er betrieb das Russell-Tribunal zur Lage der Menschenrechte mit. Er war im besten Sinn ein politischer Intellektueller.
Nach dem Nationalsozialismus
Dass er ein entschiedener Pazifist war, hatte mit seiner Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und seinem nationalsozialistischen Vater zu tun.Bernd Drücke und Muriel Schiller haben im Juli 2012 für die Zeitschrift Graswurzelrevolution mit ihm über die Haltung, die er zu seinem Vater gewonnen hat, gesprochen: „Er (sein Vater) hat nicht das gemacht, was viele Väter gemacht haben, er hat sich nicht verweigert, sondern im Gegenteil. Er hat mir das Gespräch zugestanden und wir haben tagelang über die nationalsozialistische Herrschaft und über sein Beteiligtsein gesprochen. […] Ich kann mich nicht mehr genau daran erinnern, was für Fragen ich gestellt habe, denn in der Schule haben wir darüber nichts gehört. […].
Für mich sind die entscheidenden Effekte von diesen Gesprächen nicht die Erinnerungen oder Einzelheiten, sondern dass er mit mir gesprochen hat und dass ich dabei allmählich erkannt habe, dass die Art mit dem Nationalsozialismus und seinen Konsequenzen umzugehen nicht darin besteht, dass man die älteren Generationen anklagt, sondern dass es auch mein Problem ist. Von daher hat der weitere Weg ergeben, dass ich in den 50er-Jahren Pazifist geworden bin. Schließlich wurde ich radikaler Demokrat, zunächst ganz im Rahmen des Grundgesetzes und mit der Zeit hat sich das dann, wenn man die Demokratie ernst nimmt, unvermeidlicher Weise etwas darüber hinausentwickelt.“ Es war seine fundamentale: existenzielle Konsequenz: sein Radikalpazifismus; seine radikaldemokratische Praxis; sein Menschenrechtsverständnis.
Er war ein tiefer, verlässlicher Freund. Er litt an den Verhältnissen, die er gleichzeitig unermüdlich ebenso präzise wie fundamental kritisierte. Er war ein Kämpfer für radikale Demokratie und darin vorbildlich.
Berlin, den 20. Oktober 2019