"Netzsperren" in Deutschland – Akteure, Framing und Diskurs
— Björn Küllmer (GAU Göttingen)
Einleitung
Nicht erst seit Ursula von der Leyens – 2009 zunächst im Bundestag beschlossenen und später wieder aufgehobenen – Zugangserschwerungsgesetz ist die Regulierung von Internetinhalten in Deutschland Thema öffentlicher Diskurse und Kristallisationspunkt unterschiedlicher Interessen und Akteure. Bereits seit Mitte der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts rückte mit der massenhaften Verbreitung des World Wide Web das Problem des Zugriffs und der Verbreitung von illegalen oder jugendgefährdenden Inhalten im Internet auf die politische Agenda sowohl auf Länder- als auch auf Bundesebene. Die Erfolgsquote von tatsächlich umgesetzten Policies zur Regulierung von Internetinhalten ist jedoch, wie auch das Beispiel des Zugangserschwerungsgesetzes zeigt, äußerst gering. Dabei schienen die Begründungen, die von den Befürwortern von Netzsperren ins Feld geführt wurden äußerst redlich: vom Kampf gegen Nazipropaganda über die Durchsetzung des Jugendschutzes bis zuletzt hin zum Kampf gegen Kinderpornographie schienen die Motive für die Regulierung von Internetinhalten allesamt rechtlich notwendig und moralisch unabdingbar. Statt jedoch Befürworter zu überzeugen und gesellschaftlichen Rückhalt zu generieren, mobilisierten die geplanten Netzsperren eine Reihe von bestehenden Bürgerrechtsorganisationen, neu gegründeten Aktionsbündnissen und wirtschaftlichen Interessenvertretern, die sich entschieden gegen eine Regulierung der Informationsströme im Internet aussprechen. Ihre Hauptargumente waren der Schutz der Informationsfreiheit und der Freiheit des Internets sowie die Warnung vor staatlicher Überwachung und Zensur. Gegner und Befürworter von Netzsperren prägen seitdem den öffentlichen und politischen Diskurs zum Thema der Regulierung von Internetinhalten, der in Deutschland zuletzt mit der Außerkraftsetzung des Zugangserschwerungsgesetzes zu Gunsten der Netzsperrengegner entschieden scheint.
Theoretischer Rahmen
Nach Rein und Schön (1993) sowie Kaplan (1993) haben das Framing eines Problems im öffentlichen und politischen Diskurs und die Schlüssigkeit und Vollständigkeit der Narrative, derer sich in der Argumentation bedient wird, entscheidenden Einfluss auf den Policymaking Prozess. Sie bestimmen, welche Argumentation sich in der öffentlichen und politischen Meinung durchsetzen und prägen somit die Problemwahrnehmung, das Agenda-Setting und die Problemlösungsstrategien. Daneben spielen natürlich die Akteurskonstellationen als Träger der jeweiligen Diskurse eine entscheidende Rolle bei der Formulierung von Narrativen und deren Verbreitung. Sabatier und Jenkins (1997) stellen mit ihren Advocacy Coalitions Framework ein nützliches Modell zur Beschreibung stabiler Akteurskonstellationen um gemeinsame Beliefsystems zur Verfügung. Auch wenn Advocacy Coalitions für die Analyse längerer Zeiträume gedacht sind, können sie auch im Bereich Netzpolitik ihre Anwendung finden, zumal gerade im Bereich Internetsperren der öffentliche und politische Diskurs bereits in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts begonnen hat.
Zuletzt hat Johannes Fritz (2013) die Netzpolitik als neues oder entstehendes Politikfeld beschrieben, in dem bereits bestehende und neue Akteursgruppen sich in unterschiedlichen Konstellationen um Überzeugungssysteme gruppieren, deren Beliefsystems sich teilweise diametral gegenüberstehen. Auch und insbesondere im politischen und gesellschaftlichen Diskurs um die Regulierung von Internetinhalten lassen sich diese Beliefsystems identifizieren und ermöglichen Rückschlüsse auf die jeweiligen Akteurskonstellationen und ihren Einfluss auf den Policymaking Prozess.
Fragestellung
Der geplante Vortrag soll einen Überblick auf den öffentlichen und politischen Diskurs zum Thema "Internetsperren" seit den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts in Deutschland werfen und insbesondere folgende Fragen näher beleuchten:
- Welche Akteurskonstellationen (Advocacy Coalitions) stehen sich gegenüber?
- Welches Framing nutzen die gegnerischen Akteursgruppen, um ihr jeweiliges Narrativ zum Thema "Netzsperren" durchzusetzen?
- Welche Veränderungen sind seit Beginn des Diskurses in den jeweiligen Narrativen als auch in den jeweiligen Akteurskonstellationen zu beobachten?
- Welche Schlussfolgerungen für die tatsächliche Umsetzung von Policies können anhand der Analyse von Diskursen und Akteurskonstellationen gemacht werden?
Besonderes Augenmerk soll hierbei auf die Konstellationen der staatlichen Akteure, Parteien, der gesellschaftlichen Gruppierungen sowie der wirtschaftlichen Interessengruppen und die Identifizierung von Advocacy Coalitions in den Lagern der Befürworter und Gegner von Internetsperren gelegt werden. Möglicherweise treten diese Koalitionen bei anderen Policymaking Prozessen im Bereich Netzpolitik ebenfalls auf. Sollte dies so sein, könnte ein Schema von gültigen Akteurskonstellationen im Politikfeld Netzpolitik und ihr Einfluss auf die politischen und öffentlichen Diskurse und damit den Policymaking Prozess identifiziert werden.
Literatur
- Fritz, Johannes (2013): Netzpolitische Entscheidungsprozesse Datenschutz, Urheberrecht und Internetsperren in Deutschland und Großbritannien, Nomos: Baden-Baden.
- Kaplan, T. (1993): Reading Policy Narratives, in: Fischer, F. / Forester, J. (Hrsg.) The argumentative turn in policy analysis and planning, Durham: Duke University Press, S. 166-185.
- Rein, M. / Schön, Donald A. (1993): Reframing Policy Discourse, in: Fischer, F. / Forester, J. (Hrsg.) The argumentative turn in policy analysis and planning, Durham: Duke University Press, S. 145-166.
- Sabatier, Paul A. / Jenkins-Smith, Hank C. (1993): Policy change and learning: an advocacy coalition approach.