Call for Papers: Materialistisch-(queer)feministische Perspektiven auf Gewalt
Call for Papers für die Tagung ‚Materialistisch-(queer)feministische Perspektiven auf Gewalt‘ vom 5. bis 7.12.2024 in Innsbruck.
News vom 12.03.2024
Tagung vom 5. bis 7.12.2024 am Center Interdisziplinäre Geschlechterforschung Innsbruck (CGI) der Universität Innsbruck, in Kooperation mit dem Arbeitsbereich Gender und Diversity des Otto-Suhr-Instituts für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin
Die Auseinandersetzung mit Gewalt aus einer materialistisch-(queer-)feministischen Perspektive macht deutlich, dass sie in ihren unterschiedlichen Formen mit gesellschaftlichen Strukturen verwoben ist. Aus dieser Perspektive gilt es, Institutionen, ökonomische Zwänge und Bedingungen, Praktiken sowie Wissensformen sichtbar zu machen, die cis-heteronormative, patriarchale, rassistische, postkoloniale, klassistische gesellschaftliche Strukturen normalisieren und auf diese Weise ein Bedingungsgefüge für vielfältige Formen vergeschlechtlichter, sexualisierter und normativer Gewalt hervorbringen.
Bereits in den 1970er Jahren haben marxistische Feministinnen wie Silvia Federici, Mariarosa Dalla Costa oder Selma James auf die strukturelle Verwobenheit von Kapitalismus, Geschlechter-ungleichheit und Gewalt verwiesen. Indem sie auf die konstitutive Bedeutung von vergeschlechtlichter und rassifizierter Bevölkerungspolitik sowie der vergeschlechtlichten Arbeitsteilung für die Reproduktion des Kapitalismus verwiesen, legten sie wichtige Grundpfeiler, um Gewalt aus struktureller Perspektive zu analysieren und kritisieren: Gewalt als Ausbeutung, Gewalt als Zurichtung von Körpern, Gewalt als Verhinderung von Selbstbestimmung, Gewalt als physische Kontrolle, Gewalt als Disziplinierung, Gewalt als Verweigerung von geschlechtlicher und sexueller Vielfalt. Federicis Arbeit beleuchtet eindrücklich, wie geschlechterspezifische Gewalt und die systematische Unterdrückung von Frauen und feminisierten Körpern, insbesondere durch die Hexenverfolgung, die Kontrolle weiblicher Sexualität und Fortpflanzung, die Trennung von Öffentlichkeit und Privatheit sowie die Nichtanerkennung feminisierter Arbeit für die Entstehung und Verbreitung des Kapitalismus unerlässlich waren und wie diese Formen von Gewalt bis in die Gegenwart wirkmächtig sind.
Gleichzeitig haben queertheoretische Arbeiten, wie jene von Judith Butler oder trans*theoretische von Dean Spade, die Relevanz von symbolischer und normativer Gewalt durch Subjektivierungsprozesse aufgezeigt, welche die heteronormative Zweigeschlechterordnung prägen und aufrechterhalten und, wie María Lugones verdeutlichte, im Rahmen des kolonialen Kapitalismus gewaltvoll durchgesetzt werden. Wie Verónica Gago und Luci Cavallero am Beispiel von Lateinamerika gezeigt haben, ist die Verschuldung von Staaten und Privathaushalten als neue Form der Ausbeutung durch neoliberale Austeritätspolitik im Rahmen globaler neokolonialer Ungleichheitsverhältnisse ganz maßgeblich mit sexualisierter und geschlechtsbasierter Gewalt verbunden.
Die Überlegungen zu Kapitalismus als mehrdimensionalem Gewaltverhältnis stellen den Ausgangspunkt für die Tagung dar, um die Komplexität von Gewaltverhältnissen, -strukturen, -handlungen und -diskursen im gegenwärtigen gesellschaftlichen Kontext zu erfassen. Ziel der Tagung ist es, theoretische und empirische Perspektiven auf Kapitalismus als intersektionale Gesellschaftsformation zu entwickeln, die Gewalt strukturell produziert und reproduziert. Wir wollen ausloten, wie aus materialistisch-(queer)feministischer Perspektive Gewalt als Ausbeutung, Gewalt als Verhinderung von Lebenschancen und Sicherheit sowie Gewalt als Normierung konzeptualisiert werden kann, die sich in die Konstitution von vergeschlechtlichten, sexualisierten, rassifizierten und klassierten Subjekten, Körpern und Bevölkerungen einschreibt. Angesichts der multiplen Krisen der Gegenwart wollen wir zudem diskutieren, welche theoretischen und konzeptuellen Werkzeuge erforderlich sind, um autoritären Antifeminismus, steigende Queer- und Transfeindlichkeit sowie Angriffe auf körperliche Selbstbestimmung zu bekämpfen.
Dabei reiht sich die Tagung ein in jene Arbeiten, die materialistische und (queer)feministische Theorieansätze in Dialog miteinander bringen wollen, um Gesellschaftstheorie aus intersektionaler Perspektive weiterzuentwickeln. Die Tagung schlägt vor, verschiedene Formen von Gewalt aus einer materialistisch-(queer)feministischen Perspektive zu diskutieren. Analysen von Institutionen des modernen Staates, die Gewalt (re)produzieren und normalisieren, sind ebenso von Interesse wie Analysen von Formen emotionaler Sorgearbeit bei der Überwindung erlittener Gewalt von Betroffenen sowie zivilgesellschaftliche widerständige Praktiken gegen Gewalt und deren alltägliches Kontinuum. Wir freuen uns auf Vorschläge, die auf materialistisch-(queer)feministischen Theorien beruhen ebenso wie auf empirische Beiträge aus diesen Perspektiven.
Folgende Fragen wollen wir mit der Tagung adressieren:
- Theoretisierungen von Gewalt aus materialistisch-(queer)feministischer Perspektive
Wir laden Beiträge zur Einreichung ein, die sich der Theoretisierung von Gewalt aus einer materialistisch-(queer-)feministischen Perspektive ausgehend von verschiedenen geopolitischen Kontexten widmen. Neben Beiträgen, die darlegen, wie Gewalt eine strukturelle Komponente des androzentrisch-heteronormativ-rassistisch-postkolonialen Kapitalismus ist, geht es hier darum, Verständnisse von Staat, Ausbeutung und/oder Arbeit auszuweiten, um Gewalthandeln und die Normalisierung von Gewalt theoretisch erfassen zu können. Leitende Fragen sind:
- Wie kann Gewalt aus einer feministisch-intersektionalen gesellschaftstheoretischen Perspektive konzeptualisiert werden?
- Wie lässt sich der androzentrisch-heteronormativ-rassistisch-postkoloniale Kapitalismus als notwendige Bedingungsstruktur für Gewalt in Familien, Nah- und Abhängigkeitsbeziehungen und staatlichen Institutionen ausweisen?
- Wie kann der Arbeitsbegriff dahingehend erweitert werden, um auch emotionale Arbeit zu erfassen, die die Verarbeitung von Gewalterleben und den Umgang damit als Arbeit begreift?
- Gewalt, Biopolitik und Nekropolitik in Institutionen des modernen westlichen Staates: Familie, Ehe und Verwandtschaft
Dieser Schwerpunkt konzentriert sich auf die Rolle staatlicher Institutionen wie dem Recht, der heterosexuellen Kleinfamilie und der Ehe in der Produktion und Reproduktion von Gewalt aus einer staatstheoretisch-materialistischen Perspektive. Es wird analysiert, wie diese Institutionen durch materielle Bedingungen und ökonomische Strukturen sowie durch biopolitische und nekropolitische Mechanismen Gewaltformen wie Heteronormativität, Zweigeschlechtlichkeit und Rassifizierung (re)produzieren und verstärken. Leitende Fragestellungen sind:
- Wie sind materielle Bedingungen und ökonomische Abhängigkeiten in Institutionen wie Familie und Ehe mit biopolitischen und nekropolitischen Praktiken verwoben und wie tragen sie zur Aufrechterhaltung und Verstärkung von Gewalt bei?
- Welche Rolle hat der Staat bei der Normalisierung von Gewalt und der Konstruktion von intersektional betroffenen Subjekten und Körpern als vulnerabel?
- Wie spitzen sich nekropolitische Gewaltstrukturen im Kontext der aktuellen globalen Verschärfung von Migrationsregimen und des globalen Anstiegs des Rechtsextremismus und seinen Angriffen auf queere und trans* Lebensweisen und -politiken zu?
- Kulturen und Praktiken des (Ver)Schweigens
Schweigen ist eine zentrale Machttechnik, um Gewaltstrukturen und Gewalthandeln aufrechtzuerhalten. Daher setzt sich die Tagung mit dem hegemonialen (Aus)Schweigen als Unterdrückungsinstrument aus einer materialistisch-(queer)feministischen Perspektive auseinander. Es soll untersucht werden, wie ökonomische Strukturen und materielle Abhängigkeiten Schweigen in Bezug auf Gewalterfahrungen fördern und aufrechterhalten. Leitende Fragestellungen sind:
- Wie werden durch materielle Bedingungen und intersektionale Machtstrukturen Kulturen des Schweigens und Nicht-Hören-Wollens geschaffen und aufrechterhalten?
- Wie können Veränderungen in den materiellen und ökonomischen Bedingungen das Aufbrechen von Schweigen fördern und als Form des Widerstands gegen Gewalt und Unterdrückung dienen? Welche Rolle spielen dabei der Zugang zu Ressourcen und ökonomische Unabhängigkeit?
- Wie verdichten sich in der aktuellen Autoritarisierung von Gesellschaften und Staaten diverse Praktiken des (Aus)Schweigens von struktureller Gewalt?
- Zivilgesellschaftliche Widerstände und Utopien
Dieser Schwerpunkt fragt nach historischen und aktuellen, globalen und lokalen Kämpfen, Widerstands- und Protestformen gegen Gewalt durch (radikale) transformative Bewegungen. Ein Fokus liegt auf kollektiven Praxen, die Gewalt als strukturelles Kontinuum im androzentrisch-heteronormativ-rassistisch-postkolonialen Kapitalismus politisieren. Darunter fallen etwa die globalen queerfeministischen Bewegungen gegen Feminizide sowie widerständige Praktiken und solidarische Netzwerke von queeren Menschen, trans Menschen, rassifizierten Menschen und People of Color. Wie diese Bewegungen und Netzwerke kollektive Bearbeitungsformen von erfahrener Gewalt und struktureller Verletzungsoffenheit sowie Möglichkeiten restaurativer Gerechtigkeit ausloten und kollektiv leben ist dabei von großem Interesse. Leitende Fragestellungen sind:
- Welche Praxen der radikalen Sorge entstehen in Kämpfen, die sich in unterschiedlichen Formaten – öffentlichen Demonstrationen und Besetzungen sowie kollektiven Sorge-Netzwerken und Sorge-Streiks – gegen die Gewaltförmigkeit des androzentrisch-heteronormativ-rassistisch-postkolonialen Kapitalismus richten?
- Wie beeinflusst die materielle Realität von Körpern – einschließlich ökonomischer und sozialer Bedingungen – Formen und Möglichkeiten von Widerstand, Praxen des Heilens und von Solidarität?
- Was sind Strategien (queer)feministischer Bewegungen gegen globale Gewaltverhältnisse und deren lokale Wirkmächtigkeit? Welche Utopien einer gewaltfreien Welt sind darin verankert?
Einreichungsmodalitäten:
Bitte reichen Sie Ihr Abstract in deutscher Sprache bis 30. April 2024 an Laura.Volgger@uibk.ac.at ein. Ihr Vorschlag sollte einem der vier Themenbereiche zugeordnet sein. Eine Rückmeldung wird bis zum 31. Mai 2024 erfolgen.
Das Dokument soll enthalten:
- Abstract und Titel (max. 3.500 Zeichen);
- Nachname(n)/Vorname(n), institutionelle Zugehörigkeit aller beteiligten Personen;
E-Mail-Adresse der Kontaktperson (an die die Benachrichtigung gesendet wird).
Die Tagung wird vom 5. bis 7.12.2024 an der Universität Innsbruck stattfinden. Die Vorträge werden eine Länge von 25 Minuten haben.
Veranstaltet wird die Tagung vom Center Interdisziplinäre Geschlechterforschung Innsbruck in Kooperation mit dem Arbeitsbereich Gender und Diversity des Otto-Suhr-Instituts für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin. Verantwortlich für die Konzeption der Tagung sind Friederike Beier, Gundula Ludwig und Laura Volgger.
Kosten für Anreise und Übernachtung von jenen Vortragenden, die keine anderweitige Finanzierung dafür haben, können übernommen werden.
Eine Publikation der Beiträge in einem Sammelband ist geplant.
Rückfragen gerne an Friederike.Beier@fu-berlin.de, Gundula.Ludwig@uibk.ac.at und Laura.Volgger@uibk.ac.at