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Harry Pross und das Berliner Modell

Harry Pross (1963)

Harry Pross (1963)
Bildquelle: Fotograf: unbekannt / Radio Bremen

Beth, H., & Pross, H. (1976). Einführung in die Kommunikationswissenschaft. Kohlhammer.

Beth, H., & Pross, H. (1976). Einführung in die Kommunikationswissenschaft. Kohlhammer.

Bildungsbürgertum und Zweiter Weltkrieg

Harry Pross wurde in Karlsruhe als ältester Sohn eines Fabrikdirektors und einer klavierspielenden Mutter geboren. Er wuchs in den Werkstätten der Tubenfabrik und im Schwarzwald auf. Zum protestantischen Elternhaus gehörte die Musik von Chopin und Liszt, ein Auto und auswärtige Zeitungen. Sein Vater hielt Familienausflüge mit der Schmalfilmkamera fest. Der Heranwachsende beobachtete die deutsche Remilitarisierung der Westgrenze. Er meldete sich mit 18 Jahren freiwillig für den Zweiten Weltkrieg, wurde 1942 eingezogen und schwer verwundet.

Studium und Journalismus

Ab 1945 studierte Harry Pross Sozialwissenschaften in Heidelberg. Hans von Eckhardt war einer seiner Lehrer. Der Soziologe und Zeitungswissenschaftler schickte Pross nach Nürnberg zur Beobachtung des Hauptkriegsverbrecherprozesses. Eine Erfahrung, die den für Presse und Hörfunk arbeitenden Studenten und Rheinpfalz-Volontär weiter beschäftigte. Nach der Promotion verdiente er, wie er selbst schrieb, sein Geld im „amerikanischen Propagandaimperium“. Die Militärregierung in Frankfurt bestellte einen wöchentlichen „Digest of the Communist Press“ für westliche Meinungsführer. Diese Tätigkeit führte zu einem Studienaufenthalt in den USA 1952/53. In den folgenden Jahrzehnten entstanden zahlreiche Bücher über die Geschichte der deutschen Politik, Nationalsozialismus und Massenmedien. 1963 wurde Pross Chefredakteur von Radio Bremen.

Ein Berufswechsel mit Schwierigkeiten

Mit 45 Jahren wechselte der bestens vernetzte Pross auf den Lehrstuhl für Publizistik an der Freien Universität und löste Interimsdirektor Fritz Eberhard ab. Die ordentliche Besetzung des Lehrstuhls und das Ansehen von Harry Pross stabilisierten das Institut. Mit Pross wurde das Berliner Modell eingeführt. Die Kollegen im Westen begegneten ihm mit Distanz. Pross verkörperte all das, wovon sich das Fach lösen wollte: Praktikerlaufbahn, kulturwissenschaftliche Orientierung, Akzeptanz materialistischer Dialektik. Für diese Akzeptanz steht das gemeinsame Lehrbuch mit Hanno Beth. Pross fühlte sich in der Kommunikationswissenschaft nicht zuhause. Aus dem Institut zog er sich nach und nach zurück und ließ sich 1983 vorzeitig emeritieren.

Studienplan Berliner Modell

Studienplan Berliner Modell
Bildquelle: Fachbereichsrat des Fachbereichs Philosophie und Sozialwissenschaften (1975). Akzente einer Studienreform, S. 98.

Karikatur Fallstudie

Karikatur Fallstudie
Bildquelle: Urheber: unbekannt / abgedruckt in: Komma. Zeitung am Institut für Publizistik der FU Berlin, (4), 1982, S. 18.

Alexander von Hoffmann

Alexander von Hoffmann
Bildquelle: Fotograf: unbekannt / privat

Gerhard Kothy (2009)

Gerhard Kothy (2009)
Bildquelle: Foto: DJV Berlin/JVBB im DJV

Barbara Thomaß

Barbara Thomaß
Bildquelle: Foto: B. Schäfer

Mitte der 1960er Jahre forderten Studierende und Mitarbeiter eine stärkere Praxisorientierung, die sie teilweise mit politischen Forderungen verbanden. In Erwartung, dass Pross die Anliegen teilte, engagierten sie sich für seine Berufung. Der Journalist brachte seine Ideen für die Ausbildung von „Fachleuten für Kommunikation“ ein, distanzierte sich aber von den politischen Auseinandersetzungen. 1973 legten die Berliner Wissenschaftler ihr Modell zur Ausbildung von „Kommunikationspraktikern“ vor, das für Journalismus, Öffentlichkeitsarbeit und Pädagogik qualifizieren sollte. Wie für die Forschung war auch für die Lehre das Verständnis der Publizistikwissenschaft als kritisch-emanzipatorische Sozialwissenschaft leitend. Innovativ am Berliner Modell war die Theorie-Praxis-Integration. Es erhielt bundesweite Aufmerksamkeit und lieferte ein wissenschaftliches Konzept für die Forderung der Journalistengewerkschaft dju, das Volontariat durch ein Studium zu ersetzen.

Warum wurde aus dem Berliner Institut trotzdem kein Standort der Journalistik wie Dortmund, München oder Leipzig? Die Einrichtung von Gesamthochschulen als Rahmen blieb aus. Angriffe von konservativen Rundfunkintendanten und Fachkollegen erschwerten die Vermittlung von Praktika und Volontariaten. Für Laborausstattung und Lehraufträge fehlte die ausreichende Finanzierung. Das Institut verpasste es, einen Antrag auf Förderung beim Bund zu stellen. Schließlich verweigerten Landesregierungen unter SPD und CDU die Anerkennung. Bis zur Ablösung des Modells durch einen neuen Studienplan 1988 fehlte die offizielle Unterschrift eines Kultusministers.

Die Berufung Alexander von Hoffmanns

Ab 1974 baute Alexander von Hoffmann als Professor für Medienpraxis das berufspraktische Lehrangebot aus. Die beiden wissenschaftlichen Mitarbeiter Andreas Wosnitza und Michael Meissner erhielten 1982 Dauerstellen für ihre Praxislehre und die Kontaktpflege zu den Redaktionen.

Urteile zu Theorie und Praxis

Alexander von Hoffmann: „Die sich über die richtige Auslegung des ‚Kapitals‘ den Kopf zerbrachen, die haben zwar von Praxis geredet und dabei gern den schönen, abwertend gemeinten Begriff des ‚Handwerklichen‘ benutzt. Aber wichtig war ihnen nur die Theorie.“

Gerhard Kothy, damals Student, später Journalist: „Über den Fachmann für Kommunikation herrschte Einigkeit, über seine anzustrebende oder abzulehnende Parteilichkeit wurde heftig gestritten. Für viele Studenten war die Sache klar, die Frage nur: ‚Wie links können Journalisten sein?‘.“

Barbara Thomaß, Studentin, später KW-Prof: „Die Seminare waren intellektuell extrem anregend. Der Praxisbezug hat mich nicht sonderlich umgetrieben. Ich wollte ein wissenschaftliches Studium. Diese theoretische Auseinandersetzung mit dem, was Medien in der Gesellschaft bedeuten, das war für mich das eigentlich Faszinierende. Das hatte dazu geführt, dass ich von dem Berufswunsch Journalistin erst einmal wieder abgekommen war.“

Studierende des Modellversuchs Journalisten-Weiterbildung mit Alexander von Hoffmann (links vorne), vermutlich um 1983/1984

Studierende des Modellversuchs Journalisten-Weiterbildung mit Alexander von Hoffmann (links vorne), vermutlich um 1983/1984
Bildquelle: Foto: Bernd Böhner; abgedruckt in: "Die Feder", 35(7), 1986, S. 13

Karikatur zu einem Artikel über die ungewisse Zukunft der Journalisten-Weiterbildung an der Freien Universität (1984)

Karikatur zu einem Artikel über die ungewisse Zukunft der Journalisten-Weiterbildung an der Freien Universität (1984)
Bildquelle: Karikaturist: Peter Kaczmarek ("PiKa") / abgedruckt in: Journalist, 35(9), 40.

Uni Radio (vermutlich im Gründungsjahr 1996)

Uni Radio (vermutlich im Gründungsjahr 1996)
Bildquelle: Foto: Hwa Ja Götz / FU Berlin: UA, Foto-UK, 0081

Was sollen angehende Journalisten lernen? Bis Anfang der 1970er Jahre bestimmten Verleger und Intendanten über das rein handwerkliche Volontariat. Mit den sozialliberalen Bildungsreformen sollte sich die Ausbildung an die Universitäten verlagern. Verlage und Rundfunkanstalten waren zwar an einer höheren Qualifizierung ihrer Angestellten interessiert, wollten aber nicht die Kontrolle über Ausbildung und Berufszugang verlieren. Eine Kommission des Presserats folgte diesen Interessen, denen sich auch die Parteien anschlossen. Ziel war die Einführung praxisorientierter Studiengänge, allerdings sollte das Volontariat für den sogenannten offenen Begabungsberuf erhalten bleiben. Die Journalistenorganisationen erstellten eigene Konzepte. Der DJV forderte eine stärkere Akademisierung, die dju wollte durch ein verbindliches Studium das Volontariat abschaffen und die Ausbildung der Kontrolle der Verleger entziehen. Publizistikwissenschaftler entwickelten Studiengänge, die Mittel für Ausbildung und Forschung versprachen. Die Dortmunder und die Münchener Journalistik-Studiengänge erhielten Förderung als Modellversuche des Bundes. Die Berliner bemühten sich um eine Integration praxisorientierter Ausbildung und publizistikwissenschaftlicher Forschung statt einer eigenständigen Journalistik.

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